Alanas Kurzgeschichten
Die untergehende Sonne schickt diffuses Licht durch die Lücken des halb zugezogenen Vorhangs
und befleckt das Papier. Es ist rau, verknittert und bohrt sich in meine Hand, so fest halte ich es.
Die Wörter schwirren in meinem Kopf, so wie die Parolen, die jeden Tag durch die Straßen
schallten, in der wir wohnten.
Aber diese Wörter haben nichts mit ihnen gemein.
Sie sind anders.
Sie sind verboten.
Und ich halte sie immer noch fest, die Wörter der Weißen Rose.
Ich blicke durch die verschmutzten Fenster nach draußen. Niemand kümmert sich um den
Schmutz, so wie sich niemand mehr um uns kümmert.
Wie sollen sie denn auch – Mutter und Vater sind nicht mehr hier. Sie wurden in Schutzhaft
gebracht, sagten die Nachbarn, aber ich weiß, dass sie jetzt in einem KZ sind. Mutter und Vater
wussten es auch, schon ein paar Tage bevor sie kamen. Irgendwie müssen sie uns gefunden
haben. Vielleicht hat uns jemand verraten, der Vaters Verbindungen zu der Sozialdemokratische
Partei als zu gefährlich angesehen hat.
Aber… am Ende frage ich mich, ob sie überhaupt einen Grund brauchen, um Juden zu
schädigen. Die anderen jüdischen Kinder, die zuvor bei uns gelebt haben, sind schon früher
gegangen und ich als einziger nicht-Jude mit Esther aufs Land geflohen.
Jetzt sind es nur noch wir beide.
Hier ist niemand.
Niemand, der uns sucht.
Niemand, der uns finden kann.
Und trotzdem mache ich kein Licht.
Ich habe das Gefühl, dass das letzte Wort auf dem Papier mich verhöhnt. „Freiheit“ ertönt es
immer wieder in meinem Kopf. Mein Blick wandert zu den heruntergekommenen Holzbrettern,
die die Wand darstellen.
„Freiheit“ – ich seufzte.
Meine Freiheit beschränkt sich auf die Hütte, in der ich mit Esther übernachte. Wir können uns
nicht vom Haus entfernen; einerseits, weil uns dann die Nazis finden und andererseits weil
keiner von uns einen guten Orientierungssinn hat – Es gleicht einem Wunder, dass wir überhaupt
hier hin gefunden haben. Das haben wir aber hauptsächlich Mutter zu verdanken; sie hat eine
Karte angefertigt, kurz bevor sie kamen. Auf der Rückseite der Karte stehen weitere
Anweisungen, sie sind in Eile geschrieben und nicht vollständig: Wir sollen aufeinander
aufpassen und unsere Menschlichkeit bewahren.
Zuerst habe ich nicht verstanden, wieso sie das erwähnt hat. Aber dann habe ich begriffen:
Menschen sind das, die uns Juden hassen und töten. Sie waren bestimmt auch mal menschlich.
Ich starre das Flugblatt an. Ich weiß, dass ich es nicht hätte mitnehmen sollen. Aber ich fühlte
mich so machtlos gegenüber dem Schlechten. Ohne Halt. Also nahm ich es, wie der Verräter
der ich bin. Sie würden sagen, ich wäre eine Schande für „unsresgleichen“.
Esther sagt, ich bin kein Verräter. Die 11 jährige kommt mir klüger vor, als die meisten Jungen in
meinem Alter – und ich bin zwei Jahre älter als das Mädchen mit den schwarzen Haaren.
Ich weiß, ich bin nicht für alle ein Verräter.
Für die Schreiber dieses Flugblattes bin ich Hoffnung.
Ich sitze hier, am Fenster, starre der untergehenden Sonne hinterher und frage mich, ob sie
jemals wieder für uns leuchten wird.
Alana Wissen & Lena Weihrauch